- Gliedmaßen: Die Wahrnehmung ihrer Stellung und Phantomschmerzen
- Gliedmaßen: Die Wahrnehmung ihrer Stellung und PhantomschmerzenWir wissen immer, wo sich unsere Hände und Füße befinden, selbst mit geschlossenen Augen. Mit einem einfachen Versuch lässt sich das demonstrieren. Dazu schließt eine Versuchsperson die Augen, und eine andere Person nimmt ihre Hand und bewegt sie in eine bestimmte Position, in der sie bleiben soll. Die Versuchsperson bringt dann die andere Hand in die genau spiegelbildliche Stellung. Das gelingt mit erstaunlicher Genauigkeit auf der Erde, aber auch in der Schwerelosigkeit eines Raumschiffes. Die Kraft, die man benötigt, um die Gliedmaßen in ihrer Position zu halten, spielt offensichtlich keine Rolle. Die Stellung der Gliedmaßen zueinander nimmt man unmittelbar und unabhängig von Begleitumständen wahr. Auch wenn ein schweres Gewicht die Hand nach unten zieht, weiß man genau und ohne hinzusehen, wo sie sich befindet. Die Wahrnehmung der Gliedmaßenstellung funktioniert problemlos, ist aber nicht leicht zu erklären.Es gibt somatosensorische Sinnesnervenzellen in Gelenken, Sehnen und Muskeln, deren Meldungen zur Wahrnehmung der Gliedmaßenstellung beitragen. Das reicht aber zur Erklärung der Stellungsrezeption noch nicht aus, denn auch Menschen mit künstlichen Gelenken wissen, wie diese stehen, obwohl ihnen dort die Sinneszellen fehlen.Für die Stellungswahrnehmung der Gliedmaßen gibt es zwei Erklärungen, die sich gegenseitig nicht ausschließen, sondern ergänzen. Die erste besagt, dass die somatosensorischen Sinneszellen in den Gliedmaßen die Informationsquelle für die Stellung der Gelenke sind. Eine ungewöhnliche Verschränkung der Hände wird dem Gehirn auf diesem Wege allerdings nicht richtig gemeldet. Wird einer der verschränkten Finger berührt, weiß man sofort, um welchen es sich handelt und wo er sich befindet. Nach der zweiten Erklärung entsteht die Information über die Gliedmaßenstellung im Gehirn. Aus jedem Bewegungsbefehl lässt sich im Prinzip herleiten, wohin sich die Gliedmaßen bewegen. Das Signal dafür ist die Efferenzkopie. Man braucht die Finger nur zu bewegen, und weiß dann gleich, wo sie sind. Es gibt also zwei Informationsquellen für die Gliedmaßenstellung, eine sensorische in den Gliedmaßen und eine zweite im Gehirn. Beide sind aufeinander abgestimmt. Bei jedem Bewegungsbefehl wird das Gehirn durch die Efferenzkopie auf die zu erwartenden Sinnesmeldungen vorbereitet.Aufschlussreich ist eine Sinnestäuschung über die Stellung des Ellenbogengelenks. Die Experimentatoren setzen ihren Versuchspersonen Vibratoren auf den Oberarm auf. Wenn beispielsweise der dicke Beugermuskel des Oberarmes durch einen Vibrator geschüttelt wird, ist das ein Reiz für die Muskelspindeln, die im Muskel über ihre Dehnung deren Länge registrieren. Die Muskelspindeln produzieren durch die Erschütterung mehr Aktionspotenziale, als ob die Muskelspindeln stärker gedehnt und der Arm mehr gestreckt wäre. Das erleben auch die Versuchspersonen: Das Gefühl, der Arm sei weiter gestreckt, als es wirklich der Fall ist. Aus dieser Sinnestäuschung weiß man, dass die Muskelspindeln an der Wahrnehmung der Gliedmaßenstellung beteiligt sind.Phantomwahrnehmungen von GliedmaßenDas Gehirn liefert auch unabhängig Stellungsinformation, wie Beobachtungen an Phantomgliedmaßen aus neuester Zeit beweisen. Menschen, denen ein Arm oder ein Bein fehlt oder bei denen diese keine Nervenverbindungen zum Rückenmark haben, berichten fast alle nicht nur von Phantomschmerzen und Phantomkrämpfen. Sie spüren auch die fehlende Extremität, als ob sie noch vorhanden wäre. Sogar Menschen, die mit einer fehlenden Extremität geboren wurden, haben Phantomwahrnehmungen dieser Art. Die Patienten haben oft den Eindruck sie könnten die Phantomglieder bewegen, zum Beispiel mit ihnen winken oder eine Bedrohung abwehren. In anderen Fällen verhält sich das Phantomglied so, als sei es gelähmt. Der Betroffene nimmt einen solchermaßen unbeweglichen Phantomarm als herabhängend oder zur Seite gestreckt wahr, sodass er sich an jeder Tür zur Seite wendet, weil er sonst mit dem Arm anzustoßen fürchtet. Ein Patient, der den fehlenden Arm so wahrnahm, als befände er sich hinter ihm, konnte nicht mehr auf dem Rücken schlafen.Mit der Zeit nehmen die Stellungs- und Berührungswahrnehmungen meistens ab. Das Phantomglied scheint dabei zu schrumpfen. Die Hand kann dann so empfunden werden, als säße sie am Stumpf des amputierten Armes und als seien die Finger noch immer beweglich. Wenn der Patient am Stumpf in der geeigneten Weise gereizt wird, kann es geschehen, dass der Phantomarm auch nach Jahren plötzlich wieder mit der ursprünglichen Länge wahrgenommen wird. Amputierte haben häufig Phantomglieder, die sie in der ersten Zeit nach dem Unfall oder der Operation fast immer wahrnehmen, oft verbunden mit Krämpfen und Schmerzen. Die Stellungswahrnehmung eines beweglichen Phantomglieds kann ihre Ursache nur im Gehirn haben.Die Ordnungsprinzipien der Großhirnrinde sind variabel oder plastisch. Jeder Finger der Hand hat sein Feld in der Großhirnrinde. Wenn die Nervenverbindungen zu einzelnen Fingern vorübergehend unterbrochen werden, veröden die zugehörigen Großhirnfelder nicht. Die Nachbarfelder dehnen sich vielmehr über die nun unverbundenen Areale aus. Diese Art von Plastizität wurde auch an Amputierten beobachtet. In der Projektion der Körperoberfläche auf die somatosensorische Großhirnrinde grenzt das Gesichtsfeld an das der Hand. Vilayanur Ramachandran fand bei drei von zehn amputierten Patienten, dass diese eine Berührung des Gesichts so wahrnehmen, als sei der Phantomarm oder die Phantomhand berührt worden. Wasser, das über das Gesicht dieser Patienten lief, nahmen sie wahr, als rinne es auf dem Phantomarm entlang. Anscheinend speisen Sinnesnervenzellen aus dem Gesicht ihre Erregung in das durch die Amputation frei gewordene benachbarte Großhirnareal ein. Eigentümlicherweise sind die Folgen dieses Vorgangs noch so wie vor der Amputation: Der Patient spürt den Reiz am Phantomarm.Wenn die Nervenverbindungen zwischen einem Arm und dem Rückenmark unterbrochen sind, haben die Patienten außer dem gesunden einen gelähmten wirklichen und außerdem oft einen Phantomarm. Diese Menschen berichten, dass der Phantomarm mit dem gelähmten verschmilzt, sobald sie den gelähmten Arm ansehen. Dasselbe erklärten amputierte Prothesenträger. Wenn sie nicht hinschauen, kann sich der Phantomarm irgendwo befinden. Schauen sie die Prothese an, so schlüpft der Phantomarm gewissermaßen dort hinein. Diese Phänomene brachten die Forscher auf die Idee, den Patienten ihre gesunde Hand im Spiegel zu zeigen, sodass sie aussieht wie die fehlende. In der Regel fusionierte die Phantomhand mit dem Spiegelbild. Die Patienten wurden aufgefordert, mit beiden Händen dieselbe Bewegung zu machen. Dies gab den Patienten das befreiende Gefühl, die fehlende, aber als Phantom wahrgenommene Hand, sei nicht mehr gelähmt. Ein Patient, der zehn Jahre lang das Gefühl hatte, sein Arm liege unbeweglich in einer Schlinge, nahm ihn bei Betrachtung des Spiegelbildes seines gesunden Armes wieder so wahr wie vor der Amputation.Mit dieser Beobachtung verbindet sich jetzt die Hoffnung auf eine Methode, Phantomschmerzen lindern zu können. Bewegungsübungen der gesunden Extremität und ihre Beobachtung im Spiegelbild lösten die Phantomkrämpfe gelegentlich. Die Patienten konnten sogar eine Massage der verbliebenen Extremität am Phantomglied empfinden. Interessanterweise übertragen sich aber nicht alle Berührungsempfindungen von der verbliebenen Hand auf die Phantomhand, Warm und Kalt zum Beispiel nicht. Man kann nur wünschen, dass sich aus diesen Beobachtungen Methoden entwickeln lassen, um viele Patienten von ihren Phantomschmerzen zu befreien.Prof. Dr. Christoph von Campenhausen, MainzGrundlegende Informationen finden Sie unter:Somatosensorik: Wahrnehmung durch Sinneszellen der Haut und des Körperinnern
Universal-Lexikon. 2012.